Die Kunst der Ölpreisprognose

Ölpreisprognosen sind für Produzenten und Verbraucher gleichermaßen wichtig, weil langfristige Investitionsentscheidungen darauf gegründet werden. Wenn irrtümlich mit anhaltend niedrigen Ölpreisen gerechnet wird, dann wird zu wenig in Alternativen investiert; im umgekehrten Fall vielleicht zu viel oder in noch unausgereifte Technologien, die beim nächsten Ölpreiseinbruch wieder vom Markt verschwinden. Fehleinschätzungen können zu Verwerfungen auf dem Markt führen, zu starken Preisschwankungen und zu volkswirtschaftlicher Verschwendung.

Seit 100 Jahren wird versucht, den „unausweichlichen“ Anstieg oder Fall des Ölpreises mit „unabweisbaren“ und in der Tat häufig einleuchtenden Gründen zu prognostizieren. Dennoch gelingt es meist nicht einmal, die grobe Richtung korrekt vorherzusagen. Die langfristigen Prognosen waren sehr häufig falsch.

In den 1960ern wurde unisono ein stetiger Fall des Ölpreises für die 1970er und 80er Jahre erwartet. Die Explorationserfolge waren weltweit auf dem Höhepunkt. Der Markt wurde immer wieder durch neu erschlossene Ölfelder überschwemmt. Die rasant steigende Nachfrage schien kein Problem darzustellen.

In den 1970ern kam es bekanntlich anders. Der Ölpreis stieg steil an. Das rettete allerdings viele technisch schwierige Ölprojekte in der Nordsee, deren Kosten sich als weitaus höher als geplant herausstellten.

Nach dem ersten Ölpreisschock 1973/74 begann das Goldene Zeitalter der Energieprognosen. Von Meadows Grenzen des Wachstums bis zur CIA, deren Studien vom Kalten Krieg geprägt waren, wurde die Energiezukunft in düsteren Farben gezeichnet. Unklar schien nur noch, ob zuerst die ökologische oder die ökonomische Katastrophe eintreten würde. Die Preise für Öl sollten unaufhaltsam klettern. Die Ölproduktion außerhalb der OPEC-Staaten erschien wenig aussichtsreich. Viele Experten waren der Meinung, dass die Preise rasch auf 100 $/b steigen, bis alternative Energieträger einen weiteren Preisanstieg stoppen. Ölmultis und Staatshaushalte verloren Milliarden, als sie unter dem Eindruck dieser Prognosen mehrere Jahrzehnte zu früh auf die Entwicklung von synthetischem Öl setzten.

Auch die OPEC wurde immer wieder Opfer von Fehlprognosen. Sie hoffte in den 1970ern, den Ölpreis so lange erhöhen zu können, bis Ersatztreibstoffe aus Kohle, Gas, Ölschiefer oder Ölsand attraktiv werden. Das hätte einen Ölpreis von weit über 50 $/b ermöglicht. Dabei unterschätzte sie die enormen Möglichkeiten der Energieeinsparung, die Möglichkeiten der fast völligen Verdrängung des Öls aus der Stromerzeugung und die großen Ölfunde in der Nordsee oder Alaska.

Als die Ölpreise in der ersten Hälfte der 1980er immer schneller fielen, blieb der wissenschaftliche Krisenkonsens bis auf ein paar einsame Rufer (Adelman, Odell) erstaunlicherweise unerschütterlich. Allerdings war das politische Interesse an langfristigen Prognosen mittlerweile stark zurückgegangen, da sich die Lage auf den Rohstoffmärkten entspannte. Die Ölbranche verschwand aus den Schlagzeilen. Raffinerien und Tanker wurden eingemottet und Investitionen gestoppt. Enorme Reservekapazitäten machten eine erneute Preisrallye unwahrscheinlich.

Erst Anfang der 1990er folgte das Prognosependel der Realität. Optimismus machte sich breit. Für die kommenden Jahrzehnte wurden Preise deutlich unter 30 $/b erwartet. Neue Ölregionen (z.B. Kaspisches Meer) schienen aussichtsreich. Es war Konsens bei IEA, EIA und OPEC, dass die Preise bis mindestens 2010 niedrig bleiben werden. Die Ölkonzerne fuhren ihre Investitionen herunter und entließen Personal. Technisch anspruchsvolle Projekte wurden auf die lange Bank geschoben.

In den 1990ern herrschte in Politik und Forschung, bei Investmentbanken und Ölunternehmen die Überzeugung vor, dass der Ölpreis in einem Preisband von 18–21 $/b bleiben wird. Das spiegelte sich auch in den langfristigen Preiserwartungen der Rohöl-Terminkontrakte wider, die über Jahre hinaus diese Preisspanne für die kommenden Jahre indizierten.

Im Laufe der 1990er Jahre verschoben sich jedoch die Gewichte auf dem Ölmarkt: Die Importe der USA und asiatischer Länder wuchsen stark an. Die Engpässe in der amerikanischen Raffineriebranche wurden immer gravierender.

Die wichtigste Begründung für die trotzdem entspannten Preisprognosen war die Annahme, dass die Preise durch die Non-OPEC-Anbieter in der Nordsee, Alaska, Afrika etc. gedeckelt werden. Dieser Konsens, gelegentlich auch „Goldman Sachs Consensus“ genannt, war in den Köpfen stark verankert und schien von Jahr zu Jahr bestätigt zu werden. Ein starker Anstieg des Ölpreises führt demnach umgehend zu einem Anstieg der Produktion außerhalb der OPEC und zu einer Reduzierung der Nachfrage.

Noch bis 2004 sagten alle großen Ölforschungsinstitute konstante, allenfalls leicht steigende Preise voraus, selbst als die Terminmärkte für 2011 Preiserwartungen von über 50 $/b anzeigten. Überall wurde angenommen, dass ein dauerhafter Preisanstieg die Nachfrage schwächt und zusätzliche Investitionen auslöst, die den Preis dann wieder drücken. Die Nachfragemodelle von EIA und IEA gingen unverdrossen von einer wachsenden Nachfrage aus (etwa 2 % pro Jahr), die ohne Probleme auf ein im Gleichtakt steigendes Angebot zurückgreifen kann.

Im März 2005 prognostizierte die im Ölfinanzgeschäft führende Investmentbank Goldman Sachs dann plötzlich einen „super spike“ im Ölpreis mit einer Bandbreite von 50 bis 105 $/b. Das war ein Weckruf, da Goldman-Sachs lange Zeit einen stabilen Korridor von 18–21 $/b erwartet hatte. Erst jetzt, als die Wirklichkeit die Analysen schon weit hinter sich gelassen hatten, wechselten Fachmedien und Forschungseinrichtungen in Scharen das Lager. Von nun an galten neue Rekordpreise für Öl als „unvermeidlich“. Die Ölbörsen redeten bereits lange von „50 plus X“, als Experten, Konzernvorstände und Energiepolitiker noch am alten „18–21-Konsens“ festgehalten hatten.

Mitte 2008 hatten die meisten Ölmarktexperten das Lager stillschweigend gewechselt. Aber weder die Annahmen zum Ölangebot außerhalb der OPEC, noch die Annahmen zur Preiselastizität der Nachfrage wurden ausführlich diskutiert. Vielmehr gewann „die normative Kraft des Faktischen“ in Form eines unaufhörlich steigenden Ölpreises die Oberhand und ließ die Vertreter der alten Lehrsätze verstummen. Da die Preistheorie nicht diskutiert wird, überlebten die alten Argumente bis zum heutigen Tag. Beispielsweise wird immer noch mit steigenden marginalen Kosten argumentiert, obwohl Kosten und Preise fast völlig entkoppelt sind. Auch die Rolle spekulativer Öl- oder Ölkontraktkäufe wird in vielen Analysen ausgeklammert.

Im zweiten Halbjahr 2008 konnte es daher nicht überraschen, dass die Mehrheit der Experten schon wieder auf dem falschen Fuß erwischt wurde. Noch bis weit in das vierte Quartal hinein war der Einbruch der weltweiten Nachfrage übersehen oder unterschätzt worden. Einige etablierte Institute wie IEA und EIA hatten sich gerade erst mit hohen Ölpreisen in ihren Szenarien angefreundet, als er in Tiefen stürzte, die kurz zuvor noch als „silly“ abgetan worden waren. Bislang hatte die IEA ihre Ölpreisannahmen auf der Grundlage ermittelt, welches Preisniveau die notwendigen Investitionen auslöst, um die Nachfrage zu decken. Noch 2004 erwartete sie einen Ölpreis von zunächst 22 $/b, der bis 2030 nur auf real 29 $/b steigen sollte. Dieses Modell musste nun revidiert werden, da die Marktpreise und die „notwendigen“ Preise immer weiter auseinanderklafften.

Bei den Analysten galt bis 2009 noch die Devise: „Wer bietet weniger?“. Im November und Dezember 2008 visierten die Szenarien von Goldman Sachs Preise von 25 Dollar pro Fass an.

Im Jahr 2009 setzte sich die Verwirrung fort: Die Nachfrage war schwach, die Lager quollen über, ganze Flotten wurden gemietet, um das überschüssige Öl zwischenzulagern. Doch der Ölpreis stieg unverdrossen wieder auf über 70 $/b. Die einzig sinnvolle Erklärung war der Einfluss der Finanzmärkte, die von den Zentralbanken mit billigen Krediten überschwemmt wurden, aber das passte nicht in die Theorien der Ökonomen.

Nach einem eher ereignislosen Jahr 2010 wähnten viele den Ölpreis in einem stabilen Gleichgewicht, doch schon Ende des Jahres überschritten die Preise erstmals seit 2008 wieder nachhaltig die Markt von 100 $/b. 2011 und 2012 sollten die Preise fast durchgängig in dieser luften Höhe bleiben. Zum „Glück“ gab es die Libyenkrise und das Iranembargo als Erklärungsmuster, aber wer genau hinschaut, sieht, dass die Hausse schon einige Monate früher begonnen hatte. Mehrere Erklärungen dominierten 2011 abwechselnd die Ölpreisprognosen: Die Weltwirtschaft, die OPEC und Peak Oil, also die geologisch-technischen Grenzen der Ölförderung.

2012 kamen noch zwei neue Varianten ins Spiel: Peak Demand und Shale Oil. Peak Demand setzt darauf, dass die Nachfrage nach Öl ohnehin bald zurückgehen wird. Die Preise werden also nicht weiter steigen. Das amerikanische Shale Oil (also Öl in dichtem Gestein, das aufgesprengt werden muss durch „Fracking“) soll die USA von Ölimporten weitgehend unabhängig machen. Viele Mainstream-Auguren sind deshalb zur Zeit recht entspannt: Eurokrise, lahmende Weltwirtschaft, Peak Demand und Shale Oil. Kurzum: Die Preise werden nicht mehr weiter steigen.
Wenn da doch bloß nicht die Fehlprognosen der letzten Jahrzehnte wären….

 

 

Fußnote:

Es gibt viele Gründe für die eklatanten Fehleinschätzungen der letzten Jahrzehnte: 

  • Obwohl Öl ein vergleichsweise simples und homogenes Produkt ist, ist die Struktur des Marktes und der Mechanismus der Preisbildung komplex und wenig transparent.
  • Ölmärkte sind auf vielfältige Weise mit Finanzmärkten verwoben, deren Dynamik oft unvorhersehbar ist.
  • Die Bedeutung des Raffineriesektors für die Preisbildung wird immer wieder unterschätzt.
  • Niemand kennt die Preiselastizität der Nachfrage; Subventionen bzw. Steuern entkoppeln das nationale Preisniveau von den Weltmarktpreisen. Der „Wert“ der automobilen Mobilität ist offensichtlich so hoch, dass auch steil steigende Benzinpreise die Verhaltensmuster nur langsam ändern können. Die weltweite Nachfrage konzentriert sich auf Sektoren (Verkehr, Petrochemie), in denen es kaum Alternativen zum Mineralöl gibt.
  • Unvorhersehbare geopolitische Krisen verändern permanent die Höhe der „Risikoprämien“.
  • Der Ölverbrauch korreliert stark mit dem Wachstum der Weltwirtschaft. Da das Wachstum Chinas, aber auch anderer asiatischer Länder und Lateinamerikas, unterschätzt worden war, stieg die Ölnachfrage weitaus schneller als prognostiziert und traf 2008 auf ein Angebot, das von einer zurückhaltenden Investitionsneigung geprägt war.
  • Konsens-Prognosen widerlegen sich häufig selbst, weil sie starke Reaktionen im Markt provozieren. Beispielsweise hat die (nicht berechtigte) Angst vor hohen Ölpreisen in den 1980ern die Nachfrage so weit gedämpft, dass die Preise fallen mussten. Nach 2000 war es umgekehrt: Die Erwartung niedriger Ölpreise kurbelte die Nachfrage an und verzögerte Investitionen, so dass eine Verknappung mit automatisch steigenden Preisen die Folge war.

Quelle: Teile des Textes stammen aus meinem Buch „Öl im 21. Jahrhundert – Band 1“, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2008/2009 – Steffen Bukold)

 


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