4. Die Nachfrage nach Wasserstoff: Daten, Prognosen, Sektoren
4.1 Übersicht
Vielfalt
Wie und wo soll Wasserstoff verwendet werden? Es gibt zu diesem Thema mittlerweile etliche Szenarien und Empfehlungen
1. Zunächst standen Zahlen im Mittelpunkt, die im Rahmen der Forschung zur deutschen, europäischen oder globalen Klimaschutzpolitik entstanden.
Wasserstoff ist hier ein Element unter vielen, das den Wandel Richtung Zero Carbon bis 2050 oder noch später ermöglichen soll. Es dominieren normative Top-Down-Modelle, die vom Emissionsziel ausgehen und dann die dafür notwendigen Lösungen beschreiben.
2. Der nächste Diskussionsstrang orientiert sich Bottom-Up an den Zielen einer nationalen oder europäischen Wasserstoffpolitik. Autoren sind Regierungen oder Verbände. Dazu gehören die Ausbauziele der deutschen Nationalen Wasserstoffstrategie, der EU-Wasserstoffstrategie und vieler anderer Länder wie Großbritannien, Niederlande, Portugal, Frankreich, Japan, China oder Australien. Hinzu kommen zahlreiche vorbereitende oder begleitende Positionen von Verbänden.
3. Internationale Consultants und Behörden (IEA, WoodMackenzie, BNEF u.a.) steuern zahlreiche langfristige, zumeist globale Prognosen bei. Hier stehen die neu entstehenden Märkte im Vordergrund, etwa im Anlagenbau oder im Transportwesen. Zudem werden Marktdaten geliefert, also aktuelle Projektlisten, industrielle Player und Investitionsvolumina.
Die Vorstellung der Ergebnisse dieser Studie, selbst nur der wichtigeren Studien, würde den Umfang dieses Textes sprengen. Wir haben daher einige wenige, vor allem aktuelle Texte ausgewählt und lassen die Ergebnisse der übrigen Analysen zusammenfassend in kurze Sachkapitel einfließen.
Schwerpunkte
Die Szenarien zeigen eine extrem große Bandbreite bei der Frage, wieviel Wasserstoff in Deutschland eingesetzt werden müsste, um die Emissionen bis 2050 drastisch zu reduzieren, also um mehr als 95% gegenüber 1990. Szenarien mit bescheideneren Klimaschutzzielen werden hier nicht weiter betrachtet.
Die größten Unterschiede zeigen die Untersuchungen bei drei Variablen:
- die Energienachfrage in 2050 und damit zusammenhängend der Umfang der erwarteten Effizienz- oder Suffizienztrends
- der Grad der Elektrifizierung, insbesondere im Verkehr und bei der Gebäudewärme
- der Umfang der Wasserstoff- oder PtX-Importe
Einige dieser Szenarien bzw. Studien stellen enorm hohe PtX-Importe in den Vordergrund und bewegen sich dadurch für die deutsche Energieversorgung Richtung „Business-as-usual“.
Die Elektrifizierung des deutschen Straßenverkehrs und weitreichende Maßnahmen im Bereich Effizienz oder Suffizienz scheinen jedoch notwendig, wenn die Last der Dekarbonisierung nicht auf nicht näher definierte Akteure in Übersee übertragen werden soll.
4.2 Der politische Rahmen
4.2.1 Die Europäische Wasserstoffstrategie (EWS)
Ziele und Prioritäten
Im Juli 2020 hat die EU ihre Wasserstoffstrategie vorgelegt (European Commission 2020). Sie knüpft an der 2018 veröffentlichten „Langfriststrategie der EU“ an (European Commission 2018). Darin wurden mehrere Klimaschutzstrategien für die europäische Industrie bis 2050 beschrieben.
Die Wasserstoffstrategie vom Juli geht weiter ins Detail und ist an einigen Stellen überraschend konkret. Schon bis zum Jahr 2030 sollen dadurch in der EU 82 Mio.t CO2 pro Jahr vermieden werden.
Der Anteil von Wasserstoff im EU Energiemix soll bis 2050 von 2% auf 13-14% steigen. Dafür müssen die notwendigen grünen Stromerzeuger, also ganz überwiegend Wind- und Solarstrom, rechtzeitig ausgebaut werden.
Langfristig soll nur Grüner Wasserstoff eingesetzt werden. Im Markthochlauf („in the short and medium term“) werden jedoch auch andere emissionsarme Produktionswege gefördert, also vor allem Blauer Wasserstoff.
Die Prioritäten sind aber deutlich: Bis 2050 sollen die kumulativen Investitionen in Grünen Wasserstoff bei 180-479 Mrd. Euro liegen; für Blauen Wasserstoff lediglich bei 3-18 Mrd. Euro (Lambert 2020b).
Während die deutsche Wasserstoffstrategie im Hochlauf einen relativ breiten Einsatz von Wasserstoff zu favorisieren scheint, setzt die Strategie der EU zumindest bis 2030 auf einen enorm raschen Hochlauf, der sich stark auf die Grundstoffchemie (Ammoniak, Methanol) und Raffinerien konzentriert. Stahl und Verkehr kommen erst später dazu.
Die Elektrolyseure haben daher eine hohe Auslastung, was in unseren Angebotsszenarien der „bedarfsorientierten Fahrweise“ für Großverbraucher entspricht.
Dieser Ansatz knüpft an das H2-Cluster-Konzept der EU an. Industrieregionen wie z.B. die Rotterdamer Hafenregion sollen en bloc die Großverbraucher dekarbonisieren. Das soll vorzugsweise mit Grünem Wasserstoff geschehen, übergangsweise aber auch mit Blauem Wasserstoff, trotz der damit verbundenen Restemissionen.
Aus diesen H2-Clustern sollen dann ganze H2-Valleys entstehen. Im nächsten Schritt versorgen dann H2-Pipelines die Fläche (European Commission 2020; Van Wijk/ Chatzimarkakis 2020).
Markthochlauf in der EU in drei Stufen
Der Markthochlauf der europäischen Wasserstoffwirtschaft erfolgt laut EWS in drei Stufen.
1.Phase 2020-2024: Bedarfsorienterte Elektrolyseure für die Chemie und Raffinerien
In der ersten Phase (2020-2024) werden 6 GW Elektrolyseure für Grünen Wasserstoff errichtet. Sie sollen mindestens 1 Mio. Tonnen (33 TWh) Grünen Wasserstoff pro Jahr bereitstellen. Das läuft auf eine hohe Auslastung von mehr als 5500 VLS pro Jahr hinaus. Parallel dazu muss das Angebot an EE-Strom möglichst schnell ausgebaut werden.
Die Elektrolyseure sollen in neue Größenordnungen vorstoßen und in der Nähe von Verbrauchszentren errichtet werden, also v.a. Raffinerien, Ammoniak- und Methanolherstellung.
Parallel dazu sollen bestehende H2-Anlagen, die Grauen Wasserstoff aus Erdgas herstellen, dekarbonisiert werden. Dies soll zunächst durch CCS geschehen, also die Abspaltung und Einspeicherung von CO2 (Blauer Wasserstoff).
Schließlich soll der Einsatz von Wasserstoff in neuen industriellen Anwendungsbereichen oder auch im LKW-Verkehr zumindest vorbereitet werden.
2. Phase 2025-2030: Wasserstoff jetzt auch für Stahl, Verkehr und als Stromspeicher
In der zweiten Phase bis 2030 werden die Kapazitäten für Grünen Wasserstoff massiv auf 40 GW ausgebaut, was erneut einen sehr raschen Ausbau von Erneuerbarem Strom erfordert.
Die Elektrolyseure könnten bei fast vollständiger Auslastung 10 Mio.t H2, also 330 TWh H2 erzeugen. Im Zentrum stehen nach wie vor große Elektrolyseure mit hoher Auslastung.
Zusätzliche 40 GW Elektrolyseure sollen in östlichen oder südlichen Nachbarländern der EU entstehen. Der Hochlauf wird über verschiedene Förderprogramme der EU beschleunigt.
Der größte Teil dieser 40 GW wäre für den Export in die EU bestimmt, soll aber die Dekarbonisierung der Exportländer nicht bremsen. Nach Berechnungen von Hydrogen Europe könnten 7,5 GW im Heimatmarkt verbleiben und 32,5 GW für den Export bereitstehen (Van Wijk/ Chatzimarkakis 2020).
Wasserstoff soll neben der Chemie nun auch die Stahlbranche dekarbonisieren.
Im Verkehr werden zusätzliche Sektoren für Wasserstoff oder PtX erschlossen. Neben dem LKW gehört dazu auch die Schiene, die Küstenschifffahrt und die Binnenschifffahrt.
Synthetische Kraftstoffe wie Methanol, Ammoniak oder synthetisches Kerosin dekarbonisieren schrittweise die Seeschifffahrt und die Luftfahrt.
Grüner Wasserstoff gewinnt nun auch im Stromsektor als flexibler Langzeitspeicher an Relevanz.
Unterdessen wird die Dekarbonisierung bestehender Wasserstoffanlagen (Grauer Wasserstoff) mit CCS fortgesetzt.
Unklar ist, wie sich die Verteilung von Grünem und Blauem Wasserstoff in der Praxis entwickeln wird.
Studien von Navigant/Guidehouse gehen davon aus, dass der Strommix nicht rechtzeitig dekarbonsiert werden kann.
Daher werde im Widerspruch zu den Zielen der EWS bis mindestens 2040 Blauer Wasserstoff den Wasserstoffmix dominieren. Erst danach gewinnt Grüner Wasserstoff die Oberhand (Guidehouse 2020; Gas for Climate 2020).
Die Mengenerwartungen sind demnach:
- 2030 85 TWh Blau; 50 TWh
- 2040 555 TWh Blau; 460 TWh Grün
- 2050 620 TWh Blau; 1590 TWh Grün.
3. Phase 2030-2050: Breite Anwendung
Bis 2050 wird Wasserstoff dann in allen Sektoren eingesetzt, die mit anderen Mitteln nur schwer zu dekarbonisieren wären.
Der Anteil von Wasserstoff im EU Energiemix erreicht 13-14 Prozent (Hydrogen Europe 2019, Van Wijk/Chatzimarkakis 2020).
In der EU wird ein Anstieg der Wasserstoffnachfrage von derzeit 325 bis auf 481-665 TWh in 2030 und 780-2251 TWh im Jahr 2050 erwartet.
Je nach Ausbaugeschwindigkeit wird weiter der Wasserstoffbedarf der Industrie dominieren. Verkehr und Gebäudewärme kommen als weitere große Abnehmer hinzu.


4.2.2 Deutschland: Die Nationale Wasserstoffstrategie (NWS)
Im Sommer 2020 hat das BMWi die Nationale Wasserstoffstrategie (NWS) veröffentlicht (BMWi 2020). Neben allgemeinen Zielvorgaben enthält sie zahlreiche konkrete Vorhaben und Instrumente.
Sie bildet nun erstmals ein Fundament für die Entwicklung in den kommenden Jahren und angesichts der erheblichen Finanzmittel einen sichtbaren Beleg für die Relevanz des Themas Wasserstoff.
Der Hochlauf
Die NWS will eine Elektrolyseurkapazität von 2 GW „zügig“ erreichen. Bis 2030 sollen es 5 GW sein, bis 2040 schließlich 10 GW. Daraus lässt sich die anvisierte produzierte Menge an Grünem Wasserstoff grob ableiten, wenn man eine Auslastung von 3000-4000 Volllaststunden ansetzt:
- 2025 6-8 TWh
- 2030 15-20 TWh
- 2040 30-40 TWh
Der Wasserstoffbedarf im Jahr 2030 wird in der NWS jedoch bei „90-110 TWh“ gesehen. Das wären allerdings mehr als die aktuell in der Öl- und Chemieindustrie produzierten 57 TWh an Grauem Wasserstoff plus die geplanten 15-20 TWh an Grünem Wasserstoff im Jahr 2030.
Die Lücke müsste dann, falls die Ziele der NWS nicht übererfüllt werden, durch erhebliche Wasserstoffimporte (oder PtX-Importe) oder durch zusätzliche deutsche Anlagen für Blauen Wasserstoff gedeckt werden. Wie schon bei der EU-Strategie deuten die Mengenziele der NW im Widerspruch zum Text eine größere Rolle für die fossile Wasserstoffwirtschaft an.
Die Ziele der NWS für Grünen Wasserstoff liegen deutlich unter den Werten, die sich aus den EU-Zielvorgaben (siehe voriges Kapitel) für Deutschland ableiten lassen.
Die EU will bis 2025 die Jahresproduktion auf 33 TWh Grünen Wasserstoff („renewable hydrogen“) hochfahren. Bis 2030 sollen es bereits 330 TWh sein.
Setzt man den BIP-Anteil Deutschlands an der EU (ohne UK) als Maßstab an, dann müsste Deutschland bis 2025 8,25 TWh Grünen Wasserstoff und bis 2030 82,5 TWh Grünen Wasserstoff bereitstellen.
Diese 82,5 TWh liegen weit unter dem deutschen NWS-Produktionsziel von lediglich 15-20 TWh, passt aber zum Nachfragewert von 90-110 TWh, der ebenfalls in der NWS angeführt wird.
Die Nachfragesektoren in der NWS
Bis 2030 soll der Wasserstoff vor allem den Industriesektor dekarbonieren. Der Einsatz im Verkehr wird etwas langsamer starten, aber recht breit erfolgen. Elektromobilität hat jedoch Vorrang, wo immer das möglich ist.
Was den Wärmemarkt angeht, bleibt die NWS vage. Ganz offensichtlich hat dieser Bereich keine Priorität.
Bevorzugte Zielsektoren des Markthochlaufs sind:
- Zunächst soll der Graue Wasserstoff in SMR-Anlagen durch Grünen Wasserstoff ersetzt werden.
- Gleichzeitig soll die Dekarbonisierung der heimischen Stahlproduktion starten und bis 2050 abgeschlossen sein. Dafür seien insgesamt 80 TWh Wasserstoff notwendig.
- Dasselbe gilt für die deutschen Raffinerien und für die Ammoniakproduktion. Hierfür seien im ersten Schritt 22 TWh erforderlich.
- Im Verkehrssektor soll der Fokus auf Brennstoffzellen für den Öffentlichen Personennahverkehr liegen, also insbesondere Busse, Teile des LKW-Verkehr oder spezielle Nutzfahrzeuge (Baustellen, Land- und Forstwirtschaft). Wasserstoff soll allerdings nur zum Einsatz kommen, wenn der bevorzugte Pfad der Elektromobilität nicht praktikabel ist.
4.3 Der Markthochlauf in den deutschen Energiewende-Szenarien
4.3.1 Wasserstoffbedarf in Deutschland heute
Der Wasserstoffbedarf in Deutschland liegt derzeit bei etwa 57 TWh (19 Mrd. Kubikmeter) (vgl. Schütz/Härtel 2016; Hermann/Emele 2014; Schenuit/Heuke 2016). Die Chemiebranche und Ölraffinerien dominieren den Verbrauch:
- Ammoniakherstellung 19,6 TWh (v.a. SMR-Anlagen)
- Methanolherstellung 12,7 TWh
- Raffinerien 24,8 TWh. Davon entsteht die Hälfte in erdgasbasierten SMR-Anlagen. Die andere Hälfte entsteht als Nebenprodukt in den Raffinerien und wird dort unmittelbar wieder eingesetzt. Raffinerien benötigen Wasserstoff für das Hydrocracking, Hydrotreating und Hydroformylierungen, d.h. für die Herstellung höherwertiger Kohlenwasserstoffe und für die Abtrennung von Schwermetallen und Schwefel aus dem Rohöl.
Fast alle Prognosen rechnen damit, dass der Bedarf in der Chemie (Ammoniak, Methanol) in etwa konstant bleibt, während der Einsatz in den Raffinerien stark schrumpfen wird.
Da die Elektromobilität die fossilen Verbrennungsmotoren immer weiter verdrängt, gehen den Raffinerien die wichtigsten Absatzmärkte (Benzin, Diesel) verloren. Durch diesen Strukturwandel wird der Wasserstoffbedarf in den traditionellen Sektoren voraussichtlich von 57 TWh auf etwa 36 TWh (2050) sinken.
Der größte Teil des industriell genutzten Wasserstoffs wird in Produktionsanlagen direkt vor Ort erzeugt und verbraucht. Dabei entstehen große Mengen an CO2.
Nur etwa 7 Prozent des Bedarfs (3,85 TWh) werden über Elektrolyseverfahren (Chlor-Alkali-Elektrolyse) gedeckt. Bei der Herstellung von Chlor fällt Wasserstoff als Nebenprodukt an, der heute größtenteils vor Ort zur Wärmeerzeugung verbrannt wird. In Zukunft kann dieser Wasserstoff jedoch für verschiedene Zwecke im Energiesystem eingesetzt werden (Michalski/Altmann 2019).
4.3.2 Wasserstoffbedarf in Deutschland 2020-2050: Durchschnitt der Prognosen
Studien zum deutschen Wasserstoffbedarf bis 2050 kommen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, je nach dem Grad der Elektrifzierung, dem Grad der Beharrung alter Technologiepfade oder dem Umfang von Effizienzgewinnen.
Auch lassen viele Studien den deutschen Anteil am grenzüberschreitenden Luft- und Seeverkehr völlig außer Betracht.
Neuere Studien, die eine Reduzierung der CO2-Emissionen bis 2050 um mindestens 95% anstreben, kommen inklusive Luft- und Seeverkehr im Durchschnitt auf folgenden Wasserstoffbedarf in Deutschland:
- 2030 80 TWh Wasserstoff
- 2040 200 TWh Wasserstoff
- 2050 900 TWh Wasserstoff mit einer großen Bandbreite
Dabei handelt es sich um die Summe aus Wasserstoff und H2-basierten PtX-Stoffen, die im Inland hergestellt oder importiert werden. Auf ähnliche Größenordnungen kommt auch eine Fraunhofer-Studie (Gerhardt/Bard 2020).
Auf die einzelnen Sektoren entfallen dabei, ebenfalls mit großen Bandbreiten, die folgenden Wasserstoffmengen (inkl. Importe von H2, PtG, PtL) für das Jahr 2050:
- Ersatz für Grauen Wasserstoff (SMR-Anlagen) in Raffinerien und in der Chemiebranche: 20-30 TWh H2
- Stahlbranche (Grüner Stahl): 60 TWh H2; mögliche CO2-Einsparung bis zu 50 MtCO2
- Grundstoffchemie: 200-300 TWh Wasserstoff. Höhere Importe oder verstärktes Recycling könnten den Bedarf allerdings senken.
Eine Schlüsselrolle spielt hier in vielen Studien die MTO/MTA-Route, also die Herstellung von Olefinen und Aromaten über grünes Methanol. H2-Methanol ersetzt dann die bisher großen Mengen an fossilem Naphtha (Rohbenzin). - Verkehr insgesamt: 150-500 TWh
- PKW/ÖPV/LNF: 20-40 TWh
- LKW/Nutzfahrzeuge: 50-200 TWh
- internationaler Flugverkehr und Schiffsverkehr (deutscher Anteil): 100-300 TWh
- Gebäudewärme (v.a. Zentrale Wärmeerzeugung): 30-200 TWh
- Stromsektor (Rückverstromung/Heizkraftwerke mit H2):10-200 TWh
- Importe: In den meisten Szenarien wird ein großer Teil des Wasserstoffbedarf/PtL-Bedarfs im Jahr 2050 importiert. Gleichzeitig halten fast alle Klimaschutzszenarien eine inländische Wasserstofferzeugung von 150- 200 TWh pro Jahr für sinnvoll (Wuppertal Institut 2020b).
4.3.3 Einzelstudien
Überblick
Die Szenarien des BMU errechnen einen langfristigen Bedarf von 654 TWh Wasserstoff für diverse Einsatzgebiete. Blauer Wasserstoff kommt nur wie bisher in SMR-Anlagen (Dampfreformer mit Erdgas) zum Einsatz (vgl. hierzu und zu den folgenden Szenarien: Hebling/Ragwitz 2019; Gerhardt/Bard 2020)
Das UBA-Szenario verzichtet völlig auf Blauen Wasserstoff und konzentriert den Einsatz von Grünem Wasserstoff auf die Branchen Chemie und Stahl. Der Wasserstoffbedarf liegt bei 1052 TWh.
Im BDI-Szenario wird Blauer Wasserstoff vor allem in der Industrie eingesetzt; Grüner Wasserstoff aufgrund seiner dezentralen Erzeugung vor allem im Verkehr. Eine umfassende Verkehrswende gibt es nicht. Der Wasserstoffbedarf liegt daher bei 1095 TWh.
In der dena-Leitstudie läuft die Entwicklung auf einen breiten Technologiemix aus konventionellen und neuen Energieträgern hinaus. Der Energiebedarf ist generell sehr hoch, da an den alten Technikpfaden festgehalten wird (z.B. Verbrennungsmotor). Der Wasserstoffbedarf liegt in der Summe bei 1621 TWh.
Das Fraunhofer–Barometer der Energiewende setzt stärker auf eine höhere Energieeffizienz und eine umfassende Elektrifizierung. Der Endenergiebedarf Deutschlands liegt daher 2050 nur bei 1594 TWh. Der Wasserstoffbedarf liegt bei 566 TWh, v.a. für den internationalen Verkehr (306 TWh) und die direkte Nutzung insbesondere in der Industrie (192 TWh).
Die Studie von Energy Brainpool und dem Wuppertal Institut („Erneuerbar in allen Sektoren“) aus dem Jahr 2019 kommt auf einen Gesamtbedarf an synthetischen Brennstoffen von insgesamt 1123 TWh. Er wird ganz überwiegend durch Importe gedeckt (Energy Brainpool/Wuppertal Institut 2019).
Die aktuelle Studie des Wuppertal Instituts für Fridays for Future schätzt den Bedarf an Wasserstoff bzw. flüssigen wasserstoffbasierten Energieträgern (PtL) auf 400-900 TWh, wenn das Energiesystem Deutschland klimaneutral werden soll (Wuppertal 2020b).
Die Fraunhofer Roadmap
Ein detailliertes und relativ aktuelles Szenario für einen Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft stellt die Fraunhofer-Roadmap dar. Sie skizziert einen Pfad, der von starken Effizienzanstrengungen und einer starken Elektrifizierung ausgeht und ein Emissionsziel von >95% anstrebt (Gerhardt/Bard 2020; Hebling/Ragwitz 2019)
Situation bis 2030: Der Markthochlauf erfolgt demnach zunächst nur mit moderater Geschwindigkeit. Bis 2030 sollen 4-20 TWh dekarbonisierter Wasserstoff bereitstehen, entweder aus inländischen Elektrolyseuren oder im Kombination mit Importen.
Der Wasserstoffbedarf kommt vor allem aus der Industrie: Stahl (6 TWh), Ammoniakherstellung, Hydrocracking in Chemie/Ölraffinerien, sowie auf dem Verkehr mit 1 Mio. Brenzstoffzellen-PKW und 5000 H2-LKW.
Situation bis 2050: Die Geschwindigkeit des Hochlaufs beschleunigt sich dann in den Jahren 2030 bis 2050 dramatisch. Im Jahr 2050 stehen 250-800 TWh Wasserstoff zur Verfügung, u.a. für den deutschen Anteils am internationalen Flug- und Schiffsverkehr.
Die Wasserstoffnachfrage kommt verstärkt aus dem Stahlsektor mit 38-56 TWh H2 für 20-30 Mio. Tonnen Stahl. Das könnte den gesamten Bedarf der deutschen Stahlherstellung bis 2050 abdecken. Die Direktreduktion (DRI) hat dann die traditionellen Verfahren vollständig abgelöst.
Hinzu kommt der hohe Bedarf aus der Chemie, v.a. aus der Ammoniakherstellung, und verstärkt auch aus dem Verkehr (10 Mio. PKW und 0,2 Mio. LKW).
Während in Effizienzszenarien des Verkehrs die Elektromobilität maximiert wird, ergibt sich in Szenarien mit einem hohen Anteil an chemischen Energieträgern allein für den Straßenverkehr ein jährlicher Wasserstoffbedarf in Deutschland von rund 220 TWh – etwa zwei Drittel davon für den Schwerlastverkehr.
Agora Energiewende
Auch Agora Energiewende sieht Grünen Wasserstoff im Jahr 2030 vor allem in der Industrie (75% der Gesamtmenge), rechnet aber mit einem erheblich schnelleren Markthochlauf als die Fraunhofer-Roadmap (Agora/Wuppertal 2019).
Im Jahr 2030 werden bei Agora 40 TWh Grüner Wasserstoff in der Chemie, 20 TWh in der Stahlbranche und 8 TWh in den Ölraffinerien eingesetzt.
Dena Leitstudie (aktualisiert)
Eine Aktualisierung der dena Leitstudie von 2018 skizziert einen ungewöhnlich breiten und starken Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft nach 2030. Darin kommt eine gewisse Skepsis gegenüber der Elektrifizierung im Verkehr und neuen Wegen in der Gebäudewärme zum Ausdruck.
Sie modelliert einen Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft bis 2030 auf 15 GW Elektrolyseure. Der Einsatz des Wasserstoffs bzw. der PtL-Stoffe wird in diesen Szenarien bis dahin v.a. in der Industrie (19 TWh) und im Straßenverkehr stattfinden (v.a. Brennstoffzellen in LKW).
Danach wird der Einsatz bis 2050 schlagartig breiter mit 428 TWh im Straßenverkehr, 800 TWh in der Industrie und 673 TWh für die Gebäudewärme. Der größte Teil davon muss importiert werden (Battaglia/Wagner 2019).
4.4 Nachfragesektoren
Übersicht
Wasserstoff ist in zahlreichen Sektoren einsetzbar. Das Schaubild auf der nächsten Seite gibt eine Übersicht über bestehende und zukünftige Optionen.
Die Elektrolyseure können dem Verbraucher direkt Wasserstoff bereitstellen. Alternativ können vier zusätzliche Syntheseverfahren (Methanisierung, Fischer-Tropsch-Verfahren, Methanolsynthese, Ammoniaksynthese) synthetische Grundstoffchemikalien oder Kraftstoffe bereitstellen.

Industrie allgemein
Ähnlich wie der Verkehrssektor hat die deutsche Industrie beim Klimaschutz bislang nur wenig erreicht. Die Treibhausgasemissionen sind ähnlich hoch wie vor 20 Jahren. Es ist offensichtlich, dass neue Pfade beschritten werden müssen, um die Klimaziele für 2030 und 2050 zu erfüllen.
Unter den deutschen Industriebranchen weisen Stahl (57 Mio. Tonnen CO2) und die Grundstoffchemie (37,2 MtCO2) die höchsten Treibhausgasemissionen auf (Agora/Wuppertal 2019).
Viele Betriebe in diesen Branchen arbeiten mit alten oder sehr alten Produktionsanlagen. Reinvestitionen stehen also ohnehin an. In den nächsten zehn Jahren müssen 53% der Kapazitäten der Hochöfen in der Stahlindustrie und 59% der Steamcracker in der Grundstoffchemie erneuert werden (Lechtenböhmer/Peter 2019).
Problematisch sind jedoch die Produktionsnetzwerke, die sich im Laufe vieler Jahrzehnte in Deutschland entwickelt haben. Stoffverbünde, Nutzung von Abwärme und die Verwendung von CO2, das im einen Prozess entsteht und in einem anderen Prozess genutzt wird, erschweren hier den Übergang zu Grünem Wasserstoff.
Stahl
Die Stahlproduktion gehört weltweit zu den größten Verursachern von CO2-Emissionen. Sie ist weltweit für 7-9% der Emissionsmenge fossiler Energieträger verantwortlich (Hydrogen Council 2020).
Im Jahr 2017 wurden in Deutschland 29,5 Mio. Tonnen Stahl über die Hochofenroute hergestellt. Dadurch entstehen 50 Mio.t CO2 pro Jahr (1,66 t CO2 pro t Rohstahl) (Deutsch/Graf 2019).
Das DRI-Verfahren könnte diesen Pfad vollständig ersetzen. Dabei wird Koks durch Wasserstoff ersetzt. Das Gas sorgt für die Reduktion des Eisenerzes. Dadurch entsteht Eisenschwamm (Direct Reduced Iron, DRI), der dann in einem Lichtbogenofen zu Rohstahl geschmolzen wird.
Übergangsweise kann auch Erdgas anstelle von Kohlskohle eingesetzt werden, zumindest bis die notwendigen Mengen an Grünem Wasserstoff bereitstehen, der aus einem weitgehend dekarboniserten Strommix hergestellt wird. Der Wasserstoffanteil kann dann schrittweise erhöht werden.

- Stahlprojekte
Im Stahlsektor sind bereits mehrere große Projekte mit Grünem Wasserstoff unterwegs. Je Tonne Stahl werden etwa 1,4 MWh Wasserstoff benötigt. Hochgerechnet auf die erwähnten 29,5 Mio.t läge der Wasserstoffbedarf dann bei 74 TWh.
Das Umfeld dafür ist günstig. In diesem Jahrzehnt müssen ohnehin viele Anlagen in der deutschen Stahlindustrie ersetzt werden.
Der Zyklus für Neuinvestitionen bei den Hochöfen ist relativ kurz, da sie etwa alle 20 Jahre aufwendig saniert werden müssen, was etwa 50% der Gesamtinvestitionen eines Neubaus entspricht. Agora Energiewende schätzt, dass bis 2030 die DRI-Kapazitäten von derzeit 0,6 Mio.t Stahl auf 12 Mio.t steigen könnten (30% der Gesamtkapazitäten), wenn ab 2025 alle Ersatzinvestitionen auf den Wasserstoffpfad setzen (Deutsch/Graf 2019).
Außerdem ist die Stahlindustrie auf wenige Standorte konzentriert. Grüner oder Blauer Wasserstoff könnte daher gebündelt und mit nur geringen Transportkosten bereitgestellt werden.
Eine weitere Option wäre die Erhöhung der Recyclingquote. Der Anteil des Stahlrecycling könnte langfristig von heute 25% auf 50% erhöht werden. Das verringert den Wasserstoffbedarf um etwa 20 TWh/a (Gerhardt/Bard 2020).
- Kosten für Grünen Stahl
Der Kostenabstand zwischen der Hochofenroute mit Kohle und der Wasserstoffroute ist an manchen Standorten gering. Für das große HYBRIT-Stahlprojekt von SSAB in Schweden, das im August 2020 an den Start ging, gehen die Betreiber davon aus, dass der Einsatz von Grünem Wasserstoff die operativen Kosten einer Tonne Stahl nur um 10% erhöht.
Ein CO2-Preis von 30 €/t oder aber ein Strompreis von 30 €/MWh wären ausreichend, um den Abstand bei den Betriebskosten auf Null zu reduzieren. Die Investitionskosten sind dabei allerdings nicht berücksichtigt.
SSAB will die erste Anlage 2025 vollständig in Betrieb nehmen. Bis 2045 solle die gesamte Produktion des Unternehmens von 6 Mio.t Stahl Grünen Wasserstoff einsetzen. Allein dadurch würden die CO2-Emissionen Schwedens um 10% und die CO2-Emissionen Finnlands um 7% sinken (H2-View 2020).
ThyssenKrupp ist ebenfalls dabei, einige Anlagen auf Grünen Wasserstoff umzustellen. Um die gesamte Stahlproduktion des Konzerns (13 Mio.t) anzupassen, schätzt der Konzern die Kosten auf 10 Mrd. Euro (Goodall 2020, SSAB 2019).
- Stahl und CCS
Eine andere Lösung schlagen Studien des BDI vor. Sie setzen bei der Dekarbonisierung der Stahlbranche nicht auf Grünen Wasserstoff, sondern auf Carbon Capture and Storage (CCS) und weisen deshalb keinen Wasserstoffbedarf für die Direktreduktion aus (Lechtenböhmer/Samadi 2019).
Grundstoffchemie und Raffinerien
Die direkten CO2-Emissionen der Grundstoffchemie in Deutschland liegen bei etwa 37 Mt CO2 (2017). Auch hier lohnen sich also Maßnahmen zur Dekarbonisierung in besonderem Maße (Wuppertal 2020b).
Ammoniak/Harnstoff, Methanol, die Olefine (Ethylen, Propylen, Butadien u.a.), sowie die Aromaten (Benzol, Toluol, Xylol u.a.) sind die Grundchemikalien und damit die Ausgangsstoffe für die Synthese fast aller chemischen Produkte. Ihre Herstellung benötigt etwa zwei Drittel des Energieeinsatzes der chemischen Industrie.
Olefine und Aromaten werden in der Regel in Steamcrackern hergestellt. Ammoniak und Methanol eher in SMR-Anlagen mit Erdgas (IEA 2018c; Geres/ Kohn 2019).
Die Produktionsanlagen der deutschen Grundstoffchemie sind räumlich stark konzentriert. Das erleichtert die gebündelte Versorgung mit Grünem Wasserstoff oder, im Fall von Blauem Wasserstoff, den Transport von CO2 zu den CO2-Speichern (CCS).


- Steamcracker
Die Petrochemie in Deutschland geht einen etwas anderen Weg als die USA oder China. Während dort Erdgas oder Kohle die wichtigsten Feedstocks sind, setzt die deutsche Petrochemie überwiegend auf Naphtha (75%, ca. 21,5 Mt/a), also auf Rohbenzin, einen leichten Bestandteil von fossilem Erdöl. Daher ist die Petrochemie räumlich häufig in der Nähe der deutschen Ölraffinerien angesiedelt. Daneben kommen auch Erdgas und nachwachsende Rohstoffe zum Einsatz (Purr/Günther 2019).
Naphtha wird in etwa einem Dutzend großer Steamcracker in Deutschland mit großem energetischen Aufwand in leichtere Kohlenwasserstoffe aufgebrochen.
Dabei entstehen vor allem zwei Stoffgruppen: Die bereits erwähnten Olefine und Aromaten.
Die Dekarbonisierung der gesamten deutschen Grundstoffchemie würde nach Schätzungen des Wuppertal Instituts etwa 300 TWh Wasserstoff plus 100 TWh Strom benötigen. Allerdings könnten eine starke Kreislaufwirtschaft und einige biogene Kunststoffrouten den Wasserstoffbedarf auf rund 100 TWh senken (Wuppertal 2020b).
Die Naphtha-Streamcracker, die für einen großen Teil der CO2-Emissionen in der Chemie verantwortlich sind, sind zum größten Teil veraltet. In den 2020er-Jahren sind daher hohe Ersatzinvestitionen fällig. Etwa 59% der Steamcracker-Kapazitäten müssen bis 2030 erneuert werden. Das betrifft eine Produktion von 6,9 Mio. t HVC. Hier bietet sich also eine kostengünstige Gelegenheit, um den Technologiepfad zu wechseln.
Die Übersicht unten zeigt, dass auch hier eine hohe räumliche Konzentration vorliegt, die einen Wechsel des Technologiepfades erleichtert (Agora/Wuppertal 2019).
- Raffinerien und SMR-Anlagen
Die Raffinerien sind in Deutschland für rund 25 Mio.t CO2 verantwortlich (2016). Die Elektrifizierung des Verkehrs und der Einsatz dekarbonisierter Produktionsrouten können also einen erheblichen Klimaeffekt entfalten (Dena 2018).
SMR-Anlagen (Erdgasreformierung) decken das Wasserstoffdefizit der Raffinerien und auch von Teilen der Grundstoffchemie (v.a. Methanol, Ammoniak). Eine vollständige Substitution der Erdgasreformierung durch die Elektrolyse könnte 5,77 Mio. t CO2 pro Jahr einsparen, vorausgesetzt, dass Grünstrom eingesetzt wird (Schütz/Härtel 2016).
Längerfristig wird die wachsende Zahl von Elektroautos und leichten Elektro-Nutzfahrzeugen den Bedarf an fossilen Kraftstoffen stark reduzieren. Der Substitionsbedarf durch Grünen Wasserstoff fällt also (Gerhardt/Bard 2020).
Raffinerien haben eine Kuppelproduktion, d.h. aus Rohöl entsteht bei der Destillation oder in den Konversionsanlagen eine ganze Produktpalette.
Wenn die Raffinerien ihre Produktion von Diesel und Benzin herunterfahren, dann fehlen folglich auch andere Rohstoffe. Das gilt insbesondere für Naphtha, Bitumen oder Schmierstoffe. Deutschland ist stärker von diesem Problem betroffen als andere Weltregionen, die sich weniger auf Rohöl und mehr auf Erdgas (USA) oder Kohle (China) stützen.
Auswege wären höhere Importe bestimmter Raffinerieprodukte, nicht-fossile Ersatzstoffe oder der Bau kleiner, spezialisierter Raffinerien.
In einer BDI-Studie wird daher ein Neubau von vier kleinen Raffinerien empfohlen, die exklusiv petrochemische Vorprodukte für die stoffliche Nutzung erzeugen sollen (Gerbert/Herhold 2018).
Für den Einsatz von Grünem Wasserstoff ergeben sich aus dieser Situation jedoch Probleme, da unklar ist, ob sich der Ersatz bestehender SMR-Anlagen (Grauer Wasserstoff) in alten Raffinerieanlagen noch lohnt.
Zudem drängen die Raffineriebetreiber auf eine doppelte Anrechnung von Grünem Wasserstoff auf ihre THG-Minderungsquote. Dadurch könnte jedoch ein Nullsummenspiel für das Klima entstehen, wenn die Nutzung von Grünem Wasserstoff in Raffinerieprozessen dazu führt, dass gleichzeitig der Anteil von biogenen Kraftstoffanteilen gesenkt werden kann.


- Ammoniaksynthese
Der größte Teil des Wasserstoffbedarfs in der Grundstoffchemie wandert als Synthesegas in die Ammoniakproduktion. Die Ammoniaksynthese verursacht daher direkt oder indirekt Emissionen von ca. 6 Mio. t CO2 in Deutschland (Agora/Wuppertal 2019).
Pro Tonne Ammoniak entstehen 2,5 t CO2 durch die Bereitstellung von Grauem Wasserstoff aus Erdgas und die eigentliche Ammoniak- und Harnstoffsynthese. Davon entfallen 0,7 t CO2 auf den dafür notwendigen Strombezug. 1,8 t CO2 entstehen direkt (Agora/Wuppertal 2019).
Der Übergang von Grauem zu Grünem Wasserstoff erfordert allerdings zusätzliche Schritte, da im erdgasbasierten Haber-Bosch-Verfahren CO2 entsteht, das für für die Herstellung von Harnstoff benötigt wird. Diese Lücke müsste dann über CO2-Pipelines von anderen Standorten oder durch (teure) DAC-Anlagen (Direct Air Capture) geschlossen werden.
- Methanolsynthese
Methanol ist weltweit eine der wichtigsten Chemikalien. Sie wird zumeist aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid hergestellt. In Deutschland kommen dafür vor allem Erdgas (40%) und Schweröl aus Raffinerien (60%) zum Einsatz (Geres/Kohn 2019).
Für die Methanolproduktion könnte alternativ Grüner Wasserstoff und nach Möglichkeit CO2 aus nicht-fossilen Quellen (Biomasse, DAC) genutzt werden.
Der Einsatz von Grünem Wasserstoff könnte die Herstellung von Methanol weitgehend dekarbonisieren. Das hätte zudem den Vorteil, dass grünes Methanol anschließend die Produktion von Aromaten und Olefinen dekarbonisieren könnte (vgl. nächster Abschnitt)
- MTO/MTA-Route
Olefine und Aromaten gehören wie erwähnt zu den wichtigsten petrochemischen Produkten. Die deutsche Produktion lag zuletzt bei 9,4 Mio.t Olefine und 2,9 Mio.t Aromaten pro Jahr. Bei der Herstellung in Steamcrackern entstehen 4,5 tCO2 je Produkttonne.
Diese erheblichen CO2-Emissionen könnten vermieden werden, wenn Olefine und Aromaten aus grünem Methanol erzeugt werden. Dieser Technologiepfad würde die Steamcracker, die fossiles Erdgas und Erdöl einsetzen, überflüssig machen und eine enorme Menge von bis zu 50 Mio.t CO2-Emissionen einsparen.
Der Wasserstoff- und damit auch der Strombedarf der Elektrolyseure wäre allerdings enorm. Für die genannten Mengen auf der MTO/MTA-Route rechnet Agora Energiewende mit einem Strombedarf von 302 TWh für die Elektrolyseure (Agora/Wuppertal 2019).
Verkehr allgemein
Aus Sicht der meisten Studien ist noch offen, welche Rolle Wasserstoff oder Powerfuels im Straßenverkehr spielen sollten.
Dementsprechend stark schwankt auch der Anteil der Elektromobilität je nach Szenario (vgl. u.a. Gerhardt/Bard 2020; Wuppertal 2020b, Rudolph/Merten 2019).
- PKW
Die Chancen von Wasserstoff bzw. H2-basierten Powerfuels im PKW-Verkehr werden von den Studien unterschiedlich beurteilt.
In dena-Szenarien liegt ihr Anteil bei PKW im Jahr 2050 im zweistelligen Bereich, während sie in den meisten anderen Studien praktisch ohne Bedeutung sind.
Viele Autoren setzen mittlerweile im PKW-Sektor auf den Zeitvorsprung der Elektromobilität, auf die stetig fallenden Kosten bei Batterien und die immer bessere Verfügbarkeit von günstigem Grünstrom.
In diesen Studien können sich Brennstoffzellen nur in Nischen des PKW-Marktes durchsetzen, zumal auch eine Tankinfrastruktur mit derzeit weniger als 100 Tankstellen in Deutschland kaum vorhanden ist.
LBST oder auch die dena-Leittudie gehen jedoch in einigen Szenarien davon aus, dass Brennstoffzellen-Pkw ihre Kostennachteile gegenüber Batteriefahrzeugen aufholen können und dadurch langfristig attraktiver werden.
- LKW
Während leichte Nutzfahrzeuge im städtischen oder regionalen Lieferverkehr ebenfalls über Batterien versorgt werden können, ist der Technologiepfad bei schweren LKW noch nicht klar.
In Deutschland sind 250.000 schwere LKW unterwegs, die jährlich etwa 25 Mio.t CO2-Emissionen erzeugen. Das ist die Hälfte des gesamten Straßengüterverkehrs.
Eine wichtige Weichenstellung wäre die Entscheidung, ob LKW an Autobahnen ihren Strom über Oberleitungen beziehen können. Das gilt als günstigste Lösung, die zudem diversen Hybrid-Lösungen das Tor öffnet. Powerfuels, Batterien oder Brennstoffzellen könnten als Range Extender das Oberleitungsnetz ergänzen.
Ohne Oberleitungsnetz steigen die Chancen für synthetische Powerfuels, für deren Herstellung Wasserstoff und CO2 benötigt werden. Alternativ wäre der direkte Einsatz von H2 in Brennstoffzellen möglich.
Ein Netz aus 140 Wasserstofftankstellen für den gesamten LKW-Verkehr in Deutschland scheint dafür ausreichend. Damit ließe sich der komplette Wasserstoffbedarf einer mit Brennstoffzellen betriebenen LKW-Flotte decken, so eine Fraunhofer-Studie. Die Kosten dafür liegen bei 9 Mrd. Euro. Der jährliche Wasserstoffbedarf liegt bei 1,3 Mio.t; der Strombedarf der Elektrolyse bei 65 TWh.
Die Autoren der Fraunhofer-Studie (ISI) empfehlen den dezentralen Bau von Elektrolyseuren direkt an den Tankstellen. Das könnte die überregionalen Netze entlasten und die Erneuerbaren Energien aus der Region direkt einbinden (Zugehör 2020).
- Flugverkehr
Die Kraftstoffverbrennung in großer Höhe verursacht einen mehrfach höheren Treibhausgaseffekt als die Verbrennung am Boden. Schon aus diesem Grund kann eine Reduzierung der Emissionen im Flugverkehr überproportional zum Klimaschutz beitragen.
Umgekehrt reicht folglich eine CO2-freie Herstellung von synthetischem Kerosin nicht aus, um den höheren Treibhausgaseffekt auszugleichen.
Im Inlandflugverkehr und im europäischen Kurzstreckenverkehr besteht grundsätzlich die Option, das Volumen regulativ drastisch zu reduzieren. Dasselbe wäre für den europäischen Frachtflugverkehr möglich, der auf Schiene oder Straße verlagert werden könnte.
Kurzstreckenflüge, später auch Langstreckenflüge, könnten dann z.B. nur insoweit stattfinden, wie synthetisches Kerosin zur Verfügung steht (Rudolph/Merten 2019).
Allerdings entfielen 2014 nur 8,25 TWh (8,2%) auf den nationalen Flugverkehr. Im internationalen Flugverkehr ist die Situation schwieriger, da alternative Verkehrsträger nur im Frachtverkehr eine akzeptable Alternative bieten können.
Synthetische Kraftstoffe oder Biokraftstoffe stellen im Langstreckenverkehr (Passagiere) bislang die einzigen Alternativen zu fossilem Kerosin dar. Daher stellt sich in den meisten Studien nur die Frage, in welchem Umfang und ab wann diese Alternativen importiert werden sollen.
Auf Basis von IEA-Daten schätzt das Wuppertal Institut den Bedarf für den deutschen Anteil am internationalen Flugverkehr auf 73 TWh fossiles Kerosin für das Jahr 2035. Die Substitution durch PtL erfordert rund 116 TWh (Rudolph/Merten 2019).
- Seeverkehr
Auch im Seeverkehr sind Batterien keine Alternative. Der direkte Einsatz von Wasserstoff als Kraftstoff ist möglich, aber aufwendig. Stattdessen könnte der Wasserstoff mit überschaubarem Aufwand in Treibstoffe wie Ammoniak weiterverarbeitet werden. In der Binnen- und Küstenschifffahrt könen Brennstoffzellen allerdings eine effizientere Lösung darstellen als PtL-Kraftstoffe in Verbrennungsmotoren.
Der deutsche Anteil am internationalen Seeverkehr wird vom Wuppertal Institut auf Basis von IEA-Daten für 2035 auf 27,8 TWh fossilen Schiffsdiesel geschätzt. Daraus ergibt sich ein PtL-Bedarf von 44,2 TWh (Rudolph/Merten 2019).
Gebäudewärme
Ähnlich wie im PKW-Verkehr liegen auch bei der Raumwärme die Empfehlungen weit auseinander (Wuppertal 2020b).
Die Wärmepumpe bietet hier unbestritten eine effiziente Elektrifizierung an. Sie wird in den meisten Szenarien durch eine beschleunigte Gebäudesanierung ergänzt.
Umstritten ist, inwiefern Wärmepumpen auch in Altbauten eine ökonomische Alternative darstellen. Da der notwendige Energieaufwand zur Bereitstellung von Niedertemperaturwärme mit Wasserstoff um 500-600% höher wäre als bei einer Wärmepumpe, scheint die Wärmepumpe energetisch in den meisten Fällen die bessere Option zu sein, zumal sich auch Fernwärmesysteme über Großwärmepumpen oder andere stromgestützte Optionen versorgen ließen.
Der vollständig Ersatz von Erdgas in der Gebäudewärme (rund 50%) würde zu einem zusätzlichen Bedarf von 250 TWh Wasserstoff führen. Da Grüner Wasserstoff erst einmal knapp bleibt, könnte ein früher breiter Einsatz im Wärmemarkt (und im Verkehr) die Wasserstoffpreise unverhältnismäßig in die Höhe treiben und für andere Sektoren ökonomisch unattraktiv machen (Piantieri/ Westbroek 2020, Gerhardt/Bard 2020).
Anders als in diesen flächendeckenden Szenarien wird es jedoch viele Einzelfälle und regionale Sondersituationen geben, in denen sich der Einsatz von Wasserstoff bzw. H2-basierten Brennstoffen auch im Wärmemarkt lohnt.
Beimischung im Erdgasnetz
Solange Grüner Wasserstoff knapp bleibt und Engpässe im deutschen Stromnetz existieren, bieten sich lokale undregionale Lösungen für die Beimischung von Wasserstoff im Erdgasnetz an.
Beimischungen von 10% oder 20% Volumenprozent in Erdgasnetzen ermöglichen allerdings nur relativ geringe CO2-Reduktionen, da der energetische Anteil des Wasserstoffs um den Faktor 3 niedriger ist.
Der Sprung zu reinen Wasserstoffnetzen wäre eine Option. Allerdings fallen dann Kosten beim Verbraucher für den Austausch der Gaskessel an.
Wasserstoff als flächendeckende Beimischung zum Erdgas gilt daher im Moment noch als wenig ökonomisch, könnte aber aus Sicht der Gasversorger helfen, Dekarbonisierungsziele zu erreichen.
Zudem verbessern die Kostentrends die ökonomische Attraktivität von Wasserstofflösungen gegenüber Erdgas in den kommenden Jahren.
Schon jetzt bieten sich jedoch maßgeschneiderte lokale Lösungen an, die z.B. lokale Wind- oder Solarstromanlagen nutzen, die ansonsten wegen Engpässen im Stromnetz ansonsten immer wieder abgeregelt werden müssten.
Wasserstoff für die Rückverstromung
Wasserstoff bietet sich als langfristiger Energiespeicher an, der Engpässe im Stromnetz durch die Rückverstromung entschärfen kann.
Dadurch können Stromengpässe in den „Dunkelflauten“ entschärft werden, wenn weder Fotovoltaik noch Windstrom ausreichende Strommengen bereitstellen können.
Bisherige Lösungsansätze, also insbesondere Erdgaskraftwerke, könnten durch optimierte H2-Kraftwerke ersetzt werden. Da Wasserstoff in großen Mengen speicherbar ist, steht einer Vollversorgung durch Erneuerbare Stromerzeuger in Kombination mit Grünen Wasserstoffspeichern dann nichts mehr im Weg.
Dadurch können Stromengpässe in den „Dunkelflauten“ entschärft werden, wenn weder Fotovoltaik noch Windstrom ausreichende Strommengen bereitstellen können.
Es gibt bei dieser Frage unterschiedliche Bewertungen in den diversen Studien, da sich auch Alternativen anbieten: Demand Side Management, Stromimporte, bestehende Erdgasspeicher, Biomasse, Biogas etc.
Klar ist jedoch, dass eine wochenlange „Dunkelflaute“ große Speicher erfordert, wenn sich die Stromversorgung fast ausschließlich auf Wind- und Solarstrom stützen soll. Wasserstoff bietet sich hier als „Missing Link“ auf dem Weg zu einer vollständigen Dekarbonisierung an.