1.1 Wasserstoff: Das „Missing Link“ der Energiewende?
Das Thema Wasserstoff hat 2020 und 2021 trotz der grassierenden Pandemie weiter an Fahrt aufgenommen. Im Wochentakt erscheinen neue Studien und Policy Paper. Zahlreiche Länder haben in den letzten Monaten nationale Wasserstoffstrategien beschlossen, darunter Deutschland und die EU (BMWi 2020; European Commission 2020).
Die Vorzüge des Wasserstoffpfades sind in der Tat vielfältig: als Großspeicher für überschüssigen Wind- und Solarstrom, als Roh- und Brennstoff zur Dekarbonisierung der Industrie und der Energiewirtschaft, oder, nach der Weiterverarbeitung zu Powerfuels aller Art, als Kraftstoff für Schiffe, Flugzeuge oder schwere LKW. Kurzum: Das Missing Link der globalen Energiewende.
Wasserstoff soll nach allgemeiner Überzeugung der Schlüssel zur Dekarbonisierung von Sektoren werden, die sich mit Strom überhaupt nicht oder nur zu sehr hohen Kosten dekarbonisieren lassen.
Zahllose neue Projekte wurden gestartet oder zumindest angekündigt. Ölkonzerne, Gaskonzerne, Windstromkonzerne, Versorger, Stadtwerke und Industrieunternehmen bringen sich in Stellung für einen Markt, der milliardenschwere Umsätze und die Lösung vieler Emissionsprobleme verspricht.
Achillesfersen
Der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft kommt auch in Deutschland in Gang. Die Diskussionen werden vielfältiger und anspruchsvoller. Dabei wird immer klarer, dass Wasserstoff nur im Rahmen des Gesamtprojektes der Energiewende sinnvoll erörtert werden kann. Es wird nun deutlicher, dass Grüner wie auch Blauer Wasserstoff ihre Achillesfersen haben:
- Der Hochlauf des Grünen Wasserstoffs macht nur Sinn, wenn die Ausbaugeschwindigkeit von Solar- und Windstromanlagen Schritt hält und das Grünstromangebot für andere Sektoren dadurch nicht verknappt wird.
- Der Hochlauf des Blauen Wasserstoffs macht nur dann Sinn, wenn CO2-Abtrennanlagen und CO2-Speicher zur Verfügung stehen (CSS) und wenn die Erdgaslieferanten ihre Versorgungskette dekarbonieren.
- Auch Pläne, die auf bald verfügbare Wasserstoffimporte oder PtX-Importe setzen, stellen nur eine Scheinlösung dar. Dadurch werden die Probleme lediglich ins Ausland verlagert.
1.2 Thema und Methodik dieser Studie
Fragen
Wie soll der Hochlauf der deutschen Wasserstoffwirtschaft ablaufen? Was gilt es zu beachten, wenn der Klimaschutzeffekt maximiert und die Kosten minimiert werden sollen? Vier Aspekte stehen im Vordergrund.
1. Grüner oder Blauer Wasserstoff?
Soll Wasserstoff wie bisher mit Erdgas produziert, aber durch CCS zum großen Teil dekarbonisiert werden? Das wäre der Weg des Blauen Wasserstoffs. Oder soll mit Grünstrom in Elektrolyseuren emissionsfreier Grüner Wasserstoff hergestellt werden, wie es die Nationale und die Europäische Wasserstoffstrategie fordern?
Wie schon bei Solarzellen und Batterien haben aktuelle Weichenstellungen weitreichende Folgen für den Industriestandort Deutschland.
2. Schneller oder langsamer Hochlauf?
Mit welcher Geschwindigkeit soll Wasserstoff eingeführt werden? Möglichst schnell, um die Emissionen in der Industrie zu senken; oder schrittweise, um die erwartbaren Kostensenkungen und die Dekarbonisierung des Strommixes abzuwarten?
3. Welche Nachfragesektoren sollen bevorzugt mit Wasserstoff versorgt werden?
Hier treffen die optimierten Langfristszenarien der Energiewende auf die Realität konkreter Projekte. Beide passen nicht unbedingt zusammen.
Zunächst nur grüner Stahl und grüne Chemie, weil hier die Emissionen schneller gesenkt werden können? Oder soll Wasserstoff breit eingeführt werden, um die vielerorts erkennbare Dynamik der Akteure aufzugreifen?
Diese Fragen haben weitreichende Folgen für die Fahrweise der Elektrolyseure und ihre Kosten. Angebot und Nachfrage von Wasserstoff können auch hier nicht getrennt betrachtet werden.
Farbenlehre des Wasserstoffs
Grauer Wasserstoff ist der heute weltweit dominierende Pfad zur Wasserstoffproduktion. Mit den Verfahren der Dampfreformierung (SMR) oder Varianten davon (ATR) wird durch den Einsatz von Erdgas Wasserstoff erzeugt. Dabei werden große Mengen an CO2 frei.
Blauer Wasserstoff nutzt die vorhandenen Anlagen des Grauen Wasserstoffs, aber scheidet das entstehende CO2 zum größten Teil ab und speichert es unterirdisch ein, z.B. in alten Gasfeldern in der Nordsee (CCS, Carbon Capture und Storage). Dadurch werden die CO2-Emissionen reduziert, aber die Restemissionen sind erheblich, insbesondere durch die Bereitstellung von Erdgas.
Grüner Wasserstoff setzt auf die vollständige Dekarbonisierung der Wasserstoffproduktion. In Elektrolyseuren wird regenerativ erzeugter Strom verwendet, um Wasser in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff zu zerlegen. Dadurch werden CO2-Emissionen vermieden. Die Kosten waren bisher höher als bei den Konkurrenzverfahren, die Erdgas einsetzen. Auch muss der Strommix dekarbonisiert sein, damit die Elektrolyse tatsächlich “grün” ist.
Eine weitere Variante ist der Türkise Wasserstoff, also die Methanpyrolyse. Sie ist derzeit in einem frühen Stadium der Technologiereife. Sie könnte in den kommenden Jahrzehnten relevant werden, ist aber für den aktuellen Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft nicht relevant.
Aufbau der Studie und Vorgehen
Zentrales Element dieser Studie ist eine szenariogestützte Ableitung der Kosten und Emissionen verschiedener Markthochlauf-Optionen.
Die Paramter der Szenarien sind insbesondere die Geschwindigkeit des Wind- und Solarstromausbaus, die Entwicklung der Wasserstoffnachfrage und die Fahrweise der Elektrolyseure.
Daraus werden die Kosten der Elektrolyseure und die CO2-Emissionen der Wasserstoffproduktion berechnet (Kap.2).
Diese Ergebnisse werden hinsichtlich Kosten und Emissionen mit dem Pfad der Blauen Wasserstoffwirtschaft verglichen (Kap.3).
Im nächsten Schritt werden Daten und Überlegungen zur Wasserstoffnachfrage vorgestellt. In welchen Sektoren kann und sollte Wasserstoff eingesetzt werden (Kap.4)?
Daraus ergibt sich eine zusammenfassende Bewertung verschiedener Markthochlaufszenarien der deutschen Wasserstoffwirtschaft.
Die Studie wurde von uns (EnergyComment/Hamburg) und Energy Brainpool (Berlin) im Auftrag von Green Planet Energy (ex Greenpeace Energy) durchgeführt.
1.3 Hintergrund: Der globale Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft
Wasserstoff weltweit
Im Jahr 2019 wurden weltweit 75 Mio.t reiner Wasserstoff nachgefragt. Das entspricht einer Energiemenge von 215 Mio.t Öl. Die Wirtschaftskrise im Jahr 2020 wird den Bedarf voraussichtlich auf 71,9 Mt/a senken, so Branchenschätzungen. Eine schwächere Produktion in den Ölraffinerien wird durch eine stärkere Ammoniaknachfrage (ca. 32 Mt/a) nicht voll ausgeglichen (Platts 2020d).
Der größte Teil der globalen Wasserstoffnachfrage entfällt auf zwei Sektoren: Die Ammoniakherstellung (42%) und die Ölraffinerien (52%), die Wasserstoff für eine ganze Reihe von Prozessen benötigen. Gleichzeitig entstehen in chemischen Prozessen, v.a. der Chlor-Alkali-Elektrolyse, erhebliche Mengen an Wasserstoff (Gerhardt/Bard 2020).
Wasserstoff wird überwiegend aus Erdgas (76%) und vor allem in China auch aus Kohle (23%) hergestellt. Dabei entstehen 830 Mt/a CO2. Davon entweichen 700 Mio. Tonnen direkt in die Atmosphäre. Etwa 130 Mio.t werden für die Düngemittelherstellung eingesetzt (IEA 2019c, IEA 2020d, IEA 2020e). Die Klimafolgen der Wasserstoffproduktion sind also enorm.
Wasserstoff in der EU
In der EU sieht es ganz ähnlich aus wie im globalen Überblick. Nur ein kleiner Teil des Wasserstoffangebots wird durch Elektrolyse gewonnen (4%). Der ganz überwiegende Teil entsteht über die Erdgas-Dampfreformierung (Grauer Wasserstoff).
Knapp die Hälfte der insgesamt 339 TWh Wasserstoff in der EU wird in Raffinerien eingesetzt (153 TWh), gefolgt von der Ammoniakproduktion (129 TWh). An dritter Stelle folgt Methanol (27 TWh). Die übrigen Sektoren sind unbedeutend (European Commission 2020, Van Wijk/Chatzimarkakis 2020).

Projekte
Zahl und Größe der geplanten Elektrolyseure wächst weltweit rasant. Im Zeitraum November 2019 bis März 2020 sprang der Umfang der geplanten Kapazitäten von 3,2 auf 8,2 GW.
Wenige Monate später, im Sommer 2020, zählte die EU-Kommission bereits Projekte mit insgesamt 22 GW Elektrolyse-Kapazitäten, die sich allerdings zum großen Teil noch in einem frühen Planungsstadium befinden. Nur etwas mehr als 1 GW haben bereits grünes Licht erhalten. Aber schon diese Menge würde die bestehenden Kapazitäten mehr als verdoppeln.
Binnen eines Jahres wurden weltweit 50 Großprojekte für Grünen und Blauen Wasserstoff angekündigt. Sie haben eine Kapazität von insgesamt 11 GW H2. Die Kosten summieren sich auf 75 Mrd. Dollar, so schätzt die IEEFA (Por 2020, Platts 2020c). Im Moment sieht es danach aus, dass Verkehr und Gebäudewärme die größten Absatzmärkte für diesen Wasserstoff werden sollen. Die Praxis entfernt sich damit von den meisten Szenarien einer optimierten Energiewende, die zunächst den Wasserstoffbedarf in der Industrie decken wollen.
Europa ist mit einem Anteil von über 50% und insgesamt 280 Unternehmen in der Elektrolysebranche das globale Zentrum der Marktentwicklung (European Commission 2020).
Die EU hat auch die ambitioniertesten Langfristziele verkündet. Sie ist zudem die einzige Industrieregion, die sich auf Grünen Wasserstoff konzentrieren will, während Asien eher auf Grauen und Blauen Wasserstoff setzt. Australien verfolgt beide Wege. In den USA gibt es noch keine nationale Strategie.


Nationale Politik
Zahlreiche Länder haben eine nationale Wasserstoffstrategie auf den Weg gebracht, insbesondere in Europa und Ostasien. Die Niederlande, Großbritannien sowie Japan und Südkorea waren weltweite Vorreiter. Portugal, Frankreich, Spanien, Norwegen, Deutschland und die EU folgten. Dabei mischen sich industriepolitische, energiepolitische und klimapolitische Ziele.
Im Juni 2020 veröffentlichte Deutschland seine nationale Wasserstoffstrategie (NWS, mehr dazu in Kap.4), gefolgt von der EU im Juli. Auch wenn viele Fragen offen bleiben, machen die Berliner und Brüsseler Strategien klar, dass Wasserstoff rasch an Bedeutung gewinnen wird und dass dafür Milliardenbeträge zur Verfügung stehen werden.
Die NWS betont die Geschwindigkeit: „Damit Wasserstoff wirtschaftlich wird, müssen wir die Kostendegressionen bei Wasserstofftechnologien voranbringen. Ein schneller internationaler Markthochlauf für die Produktion und Nutzung von Wasserstoff ist hier von großer Bedeu-tung…“ (BMWi 2020).
Ähnlich flott soll es in der EU vorangehen. Schon bis 2024 sollen mindestens 6 GW Produktionskapazitäten an „renewable hydrogen electrolysers“ in der EU bereitstehen und 1 Million Tonnen Wasserstoff pro Jahr herstellen (European Commission 2020).
Auch Frankreich hat große Pläne. Paris will 7 Mrd. Euro ausgeben, um bis 2030 eine Elektrolysekapazität von 6,5 GW aufzubauen, so die nationale Strategie, die im September 2020 veröffentlicht wurde (Platts 2020e).
Die Dekarbonisierung des Schwerlastverkehrs (LKW, Bahn, Binnenschifffahrt) steht in Frankreich im Zentrum. Etwa 6 Mio.t CO2-Emissionen sollen durch den Wasserstoffeinsatz vermieden werden (Argus Media 2020).
Spanien will 4 GW Elektrolysekapazität bis 2030 aufbauen Portugal plant ebenfalls den Aufbau von Elektrolyseuren im Gigawattbereich.
Auch China entdeckt das Thema allmählich für sich. Peking stand der Wasserstoffwirtschaft lange Zeit eher neutral gegenüber. Solar- und Windenergie sowie die Elektromobilität hatten Vorrang.
Die zuständige National Energy Administration (NEA) scheint erst seit kurzem ihren Kurs zu ändern. Im April 2020 veröffentlichte sie einen neuen Gesetzentwurf („Aktionsplan für Innovation der Energietechnologierevolution 2016 bis 2030“), der Wasserstoff politisch höher bewertet.
Er wird nun als ein probates Mittel gesehen, die Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten weiter zu verringern und marktfähige Technologien zu entwickeln. Der staatliche Ölkonzern Sinopec baut derzeit ein landesweites Netz von Wasserstofftankstellen auf.
Bis 2050 soll Wasserstoff 10 Prozent der Endenergieversorgung in China liefern. Der Bedarf wird bis dahin, so ein White Paper der China Hydrogen Alliance, von derzeit 22 auf 60 Mio.t Wasserstoff steigen. Das entspräche fast dem gesamten heutigen globalen Bedarf (Platts 2020c; AHK 2020; Platts 2020f; Barclays 2020).
Anders als in Europa soll Wasserstoff jedoch vor allem aus Erdgas und Kohle hergestellt werden (Grauer Wasserstoff). Bisher kommen die 20 Mio.t Wasserstoff zu 67% aus fossilen Energieträgern, vor allem Kohle; weitere 30% sind ein Nebenprodukt in industriellen Prozessen. Nur 3 Prozent entstehen aus erneuerbaren Ressourcen (Barclays 2020).
Südkorea verfolgt deutlich ambinioniertere Ziele als China und setzt dabei auf Blauen Wasserstoff aus Erdgas. Damit sollen vor allem Brennstoffzellenfahrzeuge angetrieben werden. Parallel dazu wird ein Netz aus 1200 Wasserstofftankstellen bis 2040 geplant.
Japan setzt schon seit längerem auf Wasserstoff, u.a. in der Automobilindustrie. Blauer und Grauer Wasserstoff dominieren, da das Land nur geringe Mengen an PV- und Windstrom erzeugt. Das soll jedoch durch klimaneutrale Importe von Wasserstoff ergänzt werden. Erste Pilotprojekte mit Australien und Brunei sind bereits unterwegs (Platts 2020c).
Die USA haben bislang keine nationale Wasserstoffstrategie entwickelt. Allerdings gibt es umfassende Pläne und Szenarien auf der Ebene der Wirtschaftsverbände und Regionen (Fuel Cell and Hydrogen Energy Association 2020).
Eine Roadmap vom Oktober 2020 skizziert ein Wachstum von 10 Mio.t H2 (2015) auf 14-17 Mio.t im Jahr 2030 und 20-74 Mio.t für 2050. Die größten Absatzmärkte wären dann der Verkehr und die bisherigen Verbraucher, also die Raffinerien und die Chemiebranche.
Im Moment werden in den USA 11,4 Mio.t H2 verbraucht. Davon entstehen 77% in Erdgas-Reformern und 23% als Nebenprodukte in Raffinerien. Die wichtigsten Absatzmärkte sind wie in Europa die Raffinerien (57%), sowie die Ammoniak- und Methanolherstellung (38%).
Saudi-Arabien will zusammen mit dem amerikanischen Gaskonzern Air Products Anlagen für Grünen Wasserstoff errichten, die ihren Strom aus neuen Solar- und Windkraftanlagen mit einer Kapazität von 4 GW beziehen (Air Products, ACWA, Neom). Der Wasserstoff soll in Bussen vor Ort eingesetzt werden oder in Form von Ammoniak nach Übersee exportiert werden (Greentechmedia 2020).
Das Marktpotenzial bis 2050
Die Internationale Energieagentur (IEA) errechnet in einem gemäßigten Klimaschutzszenario, das Nullemissionen allerdings erst bis 2070 anstrebt, einen globalen Bedarf von 525 Mio.t Wasserstoff (1507 Mio.t Öläquivalente). Das wäre etwa das 7fache des heutigen Wasserstoffbedarfs.
BNEF schätzt den potenziellen Wasserstoffbedarf bis 2050 deutlich höher auf 1370 Mio.t Wasserstoff, wenn alle Sektoren, die sich im Moment nicht nur für die Elektrifizierung eignen, auf Wasserstoff umgestellt werden. Zum Vergleich: Im letzten Jahr waren es 75 Mio.t.
Eine starke Klimapolitik könnte laut BNEF zumindest einen Bedarf von 696 Mio.t entwickeln. Das entspräche 24% des globalen Endenergiebedarfs.
Ein Trendszenario ohne klimapolitische Wende bliebe bei lediglich 187 Mio.t Wasserstoff stehen. Diese Menge könnte 7% des globalen Endenergiebedarfs decken (BNEF 2020).